25.04.2002
Medien Osnabrücker Zeitung
Da geht dem Zuschauer ein Licht nach dem anderen auf
Von Stefan Piontek
Themenabend: Unter Spannung - Arte, 22. 20 Uhr
,,Und Gott sprach: Es werde Licht", steht im 1. Buch
Mose der Bibel (1,3), ,,und es ward Licht!" Der Mensch
hatte es dagegen vergleichsweise schwer: Nach der Bezwingung
des Licht und Wärme spendenden Feuers dauerte es einige
tausend Jahre, bis mittels Elektrizität ein wirklicher
Fortschritt in dieser Sache gelang. Doch dann ging alles sehr
schnell.
Heute fällt es Kindern vielleicht schwer, in dem Bibelvers
etwas Besonderes zu finden, wo doch neben jeder Tür Lichtschalter
angebracht sind. Strom ist einfach das Normalste der Welt.
Oder? Mit einem wahrhaft spannenden Themenabend rekapituliert
Arte die knapp 170 Jahre währende Entwicklung, die zum
heutigen Status Quo geführt hat.
Wie aufregend Strom einmal war, zeigt Buster Keatons Stummfilm
,,Das elektrische Haus" von 1922. Keaton trug mit seiner
reglosen Miene immer Züge eines Androiden, eines mechanisch
betriebenen Roboters - als Komiker verkörperte er die
Industrialisierung und Technisierung wie sonst keiner.
An diesen 25-minütigen Auftakt schließen sich drei
Dokumentationen an, die schon formal absolute Sahnestücke
des Arte-Programms sind. Vor allem Manfred Hulverschmidts
Collage ,,Elektromensch" weicht extrem von den üblichen
Mustern ab: Alle möglichen Versatzstücke, die Elektrizität
zum Thema haben, werden scheinbar ohne tiefere Logik zusammengesetzt
- und es ergibt sich ein Bild, wie es umfassender kaum sein
könnte. Da folgen auf wissenschaftliche Sequenzen Szenen
aus alten Frankenstein-Filmen, man wühlt in der Mottenkiste
verstaubter Technik, und anschließend wird der Blick
durchs Elektronenmikroskop geworfen - wobei mal Atari-Piepser,
mal ein Country-Song über das elektrische Licht als Soundtrack
laufen.
Ästhetisch anspruchsvolle Experimentalfilme, die gleichzeitig
Unmengen an Wissenswertem vermitteln und mit ihrer Vielzahl
von skurrilen Bildern auch noch witzig-skurril sind - wer
meint, das eher dröge Thema Elektrizität wäre
nicht spannungsgeladen umzusetzen, sollte den Fernseher einschalten.
Hauptsache, der Strom ist da.
Der Journalist
Achim Bahnen hat den Film VIVA MEGALOPOLIS am 16.05.2000
im "Tagebuch" der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
rezensiert.Weil der Titel als Obertitel des arte-Themenabends
über Riesenstädte fungierte, trägt er hier
den Namen SIGNALE AUS DEM DICKICHT.
F.A.Z.
vom 16.05.2000, Seite 50
Nur London ist erwachsen
Von Achim Bahnen
Von Städten und Menschen: "Signale
aus dem Dickicht" (arte)
Manuskriptfassung!
Der Mensch ist ein städtisches Wesen, sagt Aristoteles,
wenn man seinen Satz vom Zoon politikon nur wörtlich
nimmt. In der Polis entfaltet sich der Mensch als soziales
und politisches Wesen. In den Millionenstädten von heute
steht dagegen für die meisten Bewohner nicht mehr das
gute Leben, sondern das schiere Überleben im Vordergrund.
Für den Arte-Themenabend "Viva Megalopolis"
über das Leben in den Riesenstädten hat Manfred
Hulverscheidt vier Metropolen besucht und dokumentiert "Signale
aus dem Dickicht". Seine Aufzeichnungen zu Menschen und
Städten, zu "Fleisch und Stein" (Richard Sennett),
geben sich über längere Passagen wortkarg. Einzig
die Musik, mal einnehmend pulsierend, mal nervig flirrend,
kommentiert dann die Bilder aus Mexiko-Stadt und Hongkong,
aus London und Detroit. Dazwischen kurze Statements der Bewohner,
von Architekten und Stadtplanern, soweit man von Planung in
diesen Megalopolen überhaupt noch reden mag.
"Wir Mexikaner glauben nicht an die Stadtplanung. Wir
improvisieren lieber." Entwaffnende Offenheit des Bürgermeisters.
Der Gang durch ein Wohnhaus, das wie so viele andere ohne
Plan und Architekt gebaut wurde, macht seine Worte augenfällig.
Rund vierzig Millionen Menschen werden im Jahr 2025 in Mexiko-City
leben: "kein Problem", technisch werde man diese
Massen schon in den Griff bekommen. Die sozialen Probleme
bleiben. Erst frisst die Stadt das Land und dann die Menschen.
"Karriere machen statt Mitleid zu erregen", wünscht
sich ein Schulkind. Ob die Jungfrau von Guadalupe und das
Lächeln der Menschen diese Stadt noch retten werden?
Gewalt ist Alltag in den großen Städten. In London
explodieren zum Zeitpunkt der Dreharbeiten Nagelbomben. Doch
die ständige Bedrohung scheint hier anders erfahren zu
werden, und das nicht nur in der Guild Hall beim Gespräch
mit Sir Ralf Dahrendorf. Haben die geschichtsmächtigen
Institutionen eine in den Alltag reichende beruhigende Wirkung?
Das Parlament, St. Pauls, die Bank of England - sie verleihen
der Kapitale Struktur und ein Gesicht. Zwar gibt es hier keine
Geraden wie die Champs-Elysée; anschaulich erklärt
ein Architekt, wie in London alle Planung mit der Faktizität
des Grundbesitzes rechnen musste. Doch sind Verkehrswege,
Wohnhäuser, Fabriken, Grünanlagen, Kirchen, Schulen
und Museen hier zu einem Ganzen verwachsen: jene "unendliche
Wiederholung von Banalitäten", in der Hulverscheidt
für einen Augenblick den Code von Megalopolis zu erkennen
glaubt. Aber lässt sich dieser Code wirklich "an
jedem beliebigen Ort der Welt ad infinitum buchstabieren und
variieren"? Ist jede Permutation dieser Elemente schon
eine Stadt, die jenes Urbild der Polis reflektiert, das Dolf
Sternberger im Anschluss an Hannah Arendt noch einmal als
Vorbild des modernen Verfassungsstaates in Erinnerung gerufen
hat?
Es überrascht nicht, wenn Hulverscheidt den Code von
Megalopolis ausgerechnet in London zu knacken meint. Der subtil
verfolgten Grundidee des Films zufolge repräsentiert
die englische Hauptstadt die reife und erwachsene Stadt. Mexiko-City
dagegen steht für die junge Metropole in der Wachstumsphase,
ebenso wie Hongkong, das in den kommenden Jahrzehnten mit
der "Sonderwirtschaftszone" im südchinesischen
Perlflussdelta zu einem Stadtgeflecht mit prognostizierten
sechzig Millionen Bewohnern verwachsen wird.
Die gealterte Stadt dagegen findet Hulverscheidt in der Industriemetropole
Detroit. Seit den fünfziger Jahren hat sich die Bevölkerung
nahezu halbiert. Vor allem die Reichen gingen, das Zentrum
ist verlassen. Die Stadt hat kein Herz mehr, weshalb die Stadtplaner
sich jetzt als Transplantationschirurgen betätigen, ganze
Theater werden verpflanzt. Der Erfolg der Wiederbelebungsmaßnahmen
ist ungewiss, so wie der Film im Ganzen kein Urteil über
die Zukunft der Städte fällt. Offen bleibt am Ende
auch die Schlüsselfrage dieses eindrucksvollen dokumentarischen
Essays: ob Städte wie menschliche Wesen zu betrachten
sind.
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