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Thomas P. Hughes: beim Interview am Freitag, den 6. April 2001 in seinem Haus in Philadelphia, PA.



Manfred Hulverscheidt
: Was macht eine Figur wie Thomas Edison für Sie als Historiker der Technik so interessant?

Thomas P. Hughes: Ich bin auf Edison eingegangen, weil er ein typischer Amerikaner ist. Er ist eine selbständige Persönlichkeit, er wuchs auf einer Farm auf, brach das Gymnasium ab, arbeitete als Telegraphenbote, dann als Telegraphist. Schließlich antwortete er in den 1860ern und 70er Jahren auf die Wünsche der Amerikaner nach materiellen Gütern. Bedenken Sie, die Amerikaner, die damals aus Europa kamen, waren meist ziemlich arm. Sie kamen aus einfachen Verhältnissen und darum träumten sie nicht nur von politischer Freiheit, sondern auch vom Besitz materieller Güter. Und Edison antwortete auf dieses Bedürfnis mit den Dingen, die er erfand. Er erfand Konsumtechnik, den Phonographen, elektrisches Licht. Das machte ihn zum amerikanischen Helden. Die Beschäftigung mit ihm war ein Versuch, den Kern des amerikanischen Charakters verständlicher zu machen, zumindest mir selbst.



MH: Was ist von dem Enthusiasmus dieser Zeit geblieben?

TPH: Wir Amerikaner dachten zu Beginn des 20. Jahrhunderts, daß solche Maschinen wie die, welche Edison erfand, genau diese Dinge produzieren würden, die wir so begehrten und wir haben uns nicht viel Gedanken darüber gemacht, welch große Macht die Technologie über uns gewinnen würde. Wir haben sie einfach als Quelle der Dinge betrachteten, die wir wollten. Und es hat bis nach dem Ersten und dem Zweiten Weltkrieg gedauert, bevor Zweifel über unsere Fähigkeit aufkamen, die Technologie wirklich im Griff zu haben. Die Atombombe zum Beispiel ist Technologie. Aber sie ist ziemlich weit entfernt von einem elektrischen Beleuchtungssystem; und mit elektrischem Licht - also Edisons Erfindung - fühlen wir uns wohl, mit Atombomben bestimmt nicht. Und so verpupffte allmählich dieser technologische Enthusiasmus, der mit den unabhängigen Erfindern aus Edisons Zeit verknüpft war, nach zwei Weltkriegen, die uns das zerstörerische Gesicht der Technologie offenbarten.



Nachbau von Edisons erster Erfinderwerkstatt Menlo Park, N.J. im Henry Ford Museum, Greenfield Village, Dearborn (Detroit)

MH: Sie widmen den unabhängigen Erfiindern der Edison-Periode in Ihren Schriften und Vorträgen große Aufmerksamkeit. Was hat diese historisch allmählich in den Hintergrund gedrängt?

TPH: Die unabhängigen Erfinder der Jahre 1880, 1890, 1900 waren verantwortlich für eine beachtliche Anzahl von Systemen. Denken Sie einen Moment nach: Edison, ein unabhängiger Erfinder, brachte uns Elektrizität, Licht und Energiesysteme. Die Gebrüder Wright, Orville and Wilbur, brachten uns ein funktionsfähiges Flugsystem. Alexander Graham Bell ist für das Telefonsystem verantwortlich, auch er ein unabhängiger Erfinder. And dann gibt es noch die Erfinder des Radios, des „Drahtlosen“ wie man es damals nannte, die auch unabhängig waren wie Reginald Fessenden, einer der führenden amerikanischen Radio-Erfinder. Die Liste unabhängiger Erfinder, die die Systeme schufen, mit denen wir heute leben, ist lang. Wir sind von drahtlosen Radios und selbstverständlich vom Fernsehen umgeben, von elektrischen Licht- und Energiesystemen, Flugsystemen. Wir leben in einer Welt, die entscheidend strukturiert wurde durch die Erfindungen dieser zumeist männlichen und zumeist amerikansichen Erfinder, - mir fällt keine herausragende Frau ein, die Ende des 19. Jahrhunderts als unabhängige Erfinderin Erfolg gehabt hätte. Gut, sie haben damit angefangen, aber dann, nachdem diese Systeme einmal etabliert waren, beispielsweise ein elektrisches Licht- und Energiesystem, begannen große Gesellschaften damit, die Komponenten dieser Systeme herzustellen, wie General Electric, Siemens z.B. in Deutschland, AEG in Deutschland. So waren also große Unternehmen damit beschäftigt, die Bestandteile dieser Systeme herzustellen, welche von unabhängigen Erfindern wie Edison geschaffen und erneuert wurden. Und diese Großunternnehmen haben die großangelegten Systeme nicht etwa initiiert oder erschaffen, sie haben sie verbessert. Und zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurden Wissenschaftler an Orten wie zum Beispiel dem Labor von General Electric viel eher dazu konditioniert, oder ermutigt, oder aufgefordert zu verbessern, was die unabhängigen Erfinder in die Welt gesetzt hatten. Und Wissenschaftler beschäftigten sich nun mit den kleinen Verbesserungen, z.B. des Glühfadens beim elektrischen Licht. Aber Edison hatte das System erfunden. Diese Wissenschaftler und Fachleute in den Laboratorien machten kleine Verbesserungen und argumentierten nun, sie wären die Agenten des technischen Fortschritts, nicht die unabhängigen Erfinder. Aber bedenken Sie, sie machten nur schrittweise Verbesserungen und kamen nicht etwa mit neuen Systemen heraus. Und das lag daran, daß die Firmen, bei denen sie beschäftigt waren, das hatten, was wir heute eine Produktlinie nennen: Elektrisches Licht und Energie. So betrat mit den großen Firmen, die nur mit schrittweisen Verbesserungen beschäftigt waren, eine neue Art von Person die Bühne: der industrielle Forscher. Durch diesen Typ wurden die unabhängigen Erfinder in den Hintergrund gedrängt.



MH:
Große Erfinderpersönlichkeiten hat es doch auch in der Renaissance-Zeit gegeben. Könnten Sie uns den Hauptunterschied zwischen solchen Genies wie Leonardo und den Erfindern der Moderne beschreiben?

TPH: Die unabhängigen Erfinder des späten 19. Jahrhunderts waren genauso innovativ, phantasiebegabt und schöpferisch wie die großen Erfinder der Renaissance, wie Leonardo da Vinci, um nur ein herausragendes Beispiel zu nennen. Ich denke, der Hauptunterschied zwischen den Erfindern des Edison-Zeitalters und denen der Renaissance, - aber bedenken Sie immer: beide Gruppen waren überaus schöpferisch und erfinderisch, - also der Hauptunterschied im Jahre 1900 war der, daß wir aufgrund des technischen Fortschritts fähig waren, die Welt als eine Welt nachzuerschaffen, die dem entsprach, was wir für eine wünschens- und lebenswerte Umwelt hielten. Wir hatten um 1900 eine solche Macht über die Natur erlangt, daß wir die natürliche Welt in eine vom Menschen geschaffene Welt umformen konnten. Und darum waren die unabhängigen Erfinder für die Schaffung eine Welt verantwortlich, in welcher Menschen sich wohlfühlen würden, - ich meine hier den Edison-Erfindertyp. Doch die Renaissance Erfinder besaßen nicht soviel Macht über die Natur. Zu ihrer Zeit blieb die Natur weitgehend die Umwelt, in welcher die meisten Menschen lebten. Aber die Umwelt, in welcher zumindest in den industrialisierten Ländern der westlichen Welt 1900 die Leute lebten, war eine vom Menschen geschaffene Welt. Und wir, d.h. wir Menschen, waren im Guten wie im Schlechten die Schöpfer dieser Welt; und wir konnten nicht länger Gott oder die Natur für die Unzulänglichkeiten dieser Welt verantwortlich machen. Weil wir sie schufen, wir ihr das Gesicht gaben und wir entschieden, woraus sie bestehen sollte. Im Fall Edisons war das elektrischer Strom, im Falle Bells das Telefon und im Falle der militärischen Erfinder waren es U-Boote und Maschinengewehre. Ich glaube nicht, daß wir bzw. unsere Urgroßeletern, die um 1900 gelebt haben, sich klar waren über die Verantwortung für die Welt, die sie schufen.



MH:
Welche Rolle spielte das Militär in diesem Zusammenhang?

TPH: Edison war auf dem Gebiet der elektrischen Licht- und Energiesysteme nicht von militärischen Zuwendungen abhängig. Elektrisches Licht und Energie wurden nicht durch das Militär finanziert, (aber) die drahtlose Telegraphie und das Radio wurden überwiegend vom Militär finanziert. Ich spreche von der Periode von 1900 bis 1910, als Marconi, Fessenden und De Forest das Radio gebrauchsfähig machten. Viel Unterstützung kam vom Militär, nicht nur in den Vereinigten Staaten, auch in England und in Deutschland. Warum? Zum einen hatte die Marine ein extreme hohes Interesse, weil Schiffe auf hoher See nur über den Äther kommunizieren konnten, wie man das damals nannte. Und so war die Marine ziemlich aktiv dabei, drahtlose Telegraphie zu unterstützen. Einige der Marine-Kapitäne mochten das nicht, die Kapitäne der Schiffe, weil: war ein Schiff einmal auf hoher See, stand der Kapitän zwar formell unter höherer Befehlsgewalt. Er war (nur) der Kapitän des Schiffs, draußen auf See war er der Herr über alle, die er beaufsichtigte. Aber kaum gab es die drahtlose Kommunikation, konnten die Kommandozentren an Land mit dem Kapitän kommunizieren und ihm sagen, was er tun sollte. So waren einige Kapitäne natürlich nicht so glücklich über die Einführung der drahtlosen Telegraphie. Aber diese erlaubte eine effizientere Koordination und Kontrolle der Schiffe.

Telefunkenstation auf einem amerikanischen Doppeldecker



MH:
So wurde also das Feedback, die automatische Rückkopplung, immer wichtiger für Herrschaft und Kommando

TPH: Absolut, und auch das Britische Weltreich erfand und entwickelte einiges auf diesem Gebiet, um seine weit entlegenen Kolonien zu beherrschen und aufeinander abzustimmen. So wurde drahtlose Telegrafie für den Zusammenhalt der verschiedenen Kolonien wichtig, die das Britische Weltreich ebenso wie übrigens die deutschen Kolonien mit ihrem Heimatland verbanden. So wurde drahtlose Telegraphie durch Regierungen und Militär in viel größerem Maße unterstützt als Elektrizität, die ein Konsumgut war. So wurde also das Feedback, die automatische Rückkopplung, immer wichtiger für Herrschaft und Kommando.

MH: Was geschah nun im Hinblick auf die Elektriziätt in den Nachkriegsjahren des 20. Jahrhunderts?

TPH: Nach dem Krieg standen die großen Entwicklungen in Verbindung mit dem Stromnetz, das heißt die Errichtung von landesweiten elektrischen Energiesystemen, die sich in den Vereinigten Staaten zumindest über große Teile des Landes erstreckten. Das galt genauso für Deutschland.


Sehr wichtig für diese Periode zwischen den beiden Weltkriegen wurde die Elektrifizierung des flachen Landes, weil Elektrizität als Beleuchtung sich anfangs vor allen in den Städten konzentrierte. Aber nach dem Ersten Weltkrieg verbreitete es sich über das Land aufgrund der Techniken, die entwickelt wurden, um große Energie-Netzwerke zu schaffen, die wir heute Verbundsnetze nennen, - ja und dann gab es in den Vereinigten Staaten zwischen den beiden Kriegen den Entwicklungsplan für das Tal des Tennessee Rivers. Die Entwicklung der Tennessee Valley Authority war ein Versuch, das ökonomische Wachstum einer durch Armut gekennzeichneten Region mithilfe der Elektrizität und mithilfe schiffbarer Flußbecken zu stimulieren, was begleitet wurde von Urbachmachung und Wiederaufforstung. Die Tennesse Valley Behörde war ein großes Projekt, das während der Depression in den Vereinigten Staaten initiiert wurde, um einer der ärmsten Gegenden des Landes zu Prosperität zu verhelfen. Elektrizität spielte bei diesem Plan eine Hauptrolle. Das ging bis in die 30er Jahre hinein. Und ironischerweise waren es diese großen Dämme, die gebaut wurden, um das Tal mit Wasserkraft zu elektrifizieren, die es möglich machten, das Uran aufzubereiten, das für zerstörerische Zwecke benutzt wurde.

MH: Elektrifizierung, Systembau, - ist das nicht eine Art zweischneidiges Schwert?

TPH: Nunja Systembauer streben nach Beherrschung, vor allem die großen Systembauer. Walther Rathenau in Deutschland war ein großer Systembauer, in den Vereinigten Staaten war Samuel Insull ein großer Systembauer und Henry Ford, der Automobilbauer, war einer. Ein hervorstechendes Merkmal ist, daß sie alles beherrschen wollen, was ihre Handlungsfreiheit einschränken könnte. Nehmen wir Henry Ford: er will Autos bauen, und um Autos zu bauen möchte er die Rohstoffquellen kontrollieren, die Energie, die Arbeiter, also alles kontrollieren, was in irgendeiner Weise seine Produktionsmöglichkeiten von Autos beschränken könnte. Systembauer sind also in dem einen Sinne sehr positiv, daß sie eine Menge Produktionsmittel zusammenbringen wie Autofabriken und so weiter, aber zugleich gibt es eine negative Seite der Systembauer, nämlich ihr Ehrgeiz, alles zu kontrollieren, was sie anordnen und was sie schaffen.

MH: ... und damit entziehen sie allem Experimentellen den Boden, was ja ein merkwürdiger Widerspruch zur Ausgangsposition der unabhängigen Erfinder ist ...

TPH: Jemand kontrolliert und falls jemand wirklich kontrolliert, so schließt er höchstwahrscheinlich das Unerwartete aus, das, was nicht vorhergesagt werden kann. Systembauer besitzen eine gewisse psychologische Unsicherheit, die diesen Wunsch und diesen Ehrgeiz zu kontrollieren, nährt. So gibt es positive und negative Eigenschaften des Systembauers. Napoleon war sicherlich Systembauer in einem Reich, das noch nicht von der Technologie dominiert wurde.

MH: aber wie verhält sich das zur Elektrizität?

TPH: Im Fall der Elektrizität besteht eine der stimulierendsten Herausforderungen für den Regelungs-Techniker (control engineer) darin, diese unsichtbare Kraft zu meistern; die Elektrizität ist nicht nur eine Herausforderung an diejenigen, die diese (elektrische) Technik beherrschen wollen, Elektrizität selbst ist eine der wirkungsvollsten Methoden zur Kontrolle von Maschinen. Die meisten Kontrollinstrumente sind elektrisch. Während also Elektrizität einmal eine Herausforderung für diejenigen ist, die sie beherrschen wollen, ist sie andererseits selbst ein Mittel zur Kontrolle. Zum Beispiel wurde auf den großen Schlachtschiffen des Ersten Weltkriegs Elektrizität dazu benutzt, den Feind zu lokalisieren und dann wurde es dazu benutzt, die Kanonen zu positionieren, die auf den Feind gerichtet waren. So war sie wesentlicher Bestandteil für das Funktionieren dieser großen Schlachtschiffe, weil man mit ihrer Hilfe die Feuerkraft der Kanonen einstellen konnte. Kontrolle ist somit ein ganz zentrales Motiv der Elektrizität, auch heute noch. Schauen Sie sich in Ihrer Wohnung um. Viele Kontrollinstrumente wie der Thermostat ihrer Heizung sind elektrische Instrumente. Oder in ihrem Auto, auch da sind die meisten Konstrollinstrumente elektrisch.



MH:
Lassen sich Systembauer mit Künstlern vergleichen?

TPH: Ich habe nicht den Eindruck, daß Künstler so versessen auf Kontrolle sind wie die Systembauer. Tatsächlich haben nach dem Zweiten Weltkrieg führende Künstler wie die abstrakten Expressionisten Wert darauf gelegt, eine Kunst zu schaffen, die keinen Herrschaftsanspruch ausstrahlte. Zum Beispiel sind Pollock‘s Tropfengemälde ein Beispiel für unkontrollierte Malerei. Das war eine Reaktion der Künstler auf die Kontrollwut der Systembauer. Die Künstler reagierten auf den militärisch-industriell-universitären Komplex; und ich denke wieder in erster Linie an die Künstler des abstrakten Expressionismus, die dachten, daß Kontrolle das Wesen negativer Technologie ausmachte. So sollte Kunst nicht der Kontrolle huldigen, sie sollte anti-kontrollmäßig sein. Und John Cage, der sehr einfallsreiche amerikanische Komponist, war berühmt für seine Kompositionen, die auf die Kontrolle der Interpreten verzichteten. Musik ohne Noten, auch das, um Kontrolle zu vermeiden. Nein, ich denke ich nicht, daß Künstler Systembauer sind. Heute ist die Beziehung von Künstlern und Erfindern wieder enger geworden, aber nicht alle Erfinder sind Systembauer. Einige sind wie Edison, wie Edison ein Systembauer war, aber viele anderen Erfinder waren keine Systembauer.

Programmsteuerung des ersten digitalen Rechners der Welt
Konrad Zuse baute 1943 seinen Z3 ohne Unterstützung des Militärs in der elterlichen Küche

MH: Sind Systembauer nicht auf ihre Weise größenwahnsinnig?

TPH: Die Systembauer, die die Entwicklung eines großen Projekts kontrollieren wollen, die finden schnell heraus, daß sie ein großes Projekt nicht kontrollieren können, ein Autobahnprojekt, Rüstungsprojekt, was immer es sein mag. Systembauer werden realistisch, wenn sie mit Risiken und Unsicherheiten konfrontiert werden. Die besten von ihnen sind diejenigen, die einen Gratweg zwischen Unvorhersagbarkeit und Kontrolle einschlagen. Weil sie wissen, daß manche Dinge nicht kontrolliert werden können, andere jedoch sehr wohl, und daß sie genau auswählen müssen, was sie als kontrollierbar und was sie als unkontrollierbar einschätzen. Ein guter Systembauer wird zum Beispiel nicht versuchen, phantasiebegabte Menschen zu kontrollieren, weil diese ihre Freiheit brauchen, um ihren Vorstellungen nachzugehen. Andererseits kann man Routine-Arbeiter kontrollieren. So werden also die besten Systembauer einen Gratweg zwischen Vorhersagbarkeit und Risiko eingehen. Aber das Ideal wäre natürlich vollständige Kontrolle vom Anfang bis zum Ende eines Projekts, aber kaum ist das Projekt etwas komplizierter, ist das nicht möglich. Nur auf Ingenieursschulen bringen sie Studenten bei, Probleme so zu lösen, daß alles unter Kontrolle ist, aber das funktioniert nicht in der Realität, nicht in der Praxis. Das ist eins der Probleme der Ingenieursschulausbildung, daß Studenten beigebracht wird, die Welt sei kontrollierbar und wenn sie dann draußen sind, erfahren sie das Gegenteil.

MH: Könnten Sie die wichtigste Veränderung auf dem Gebiet der Elektrotechnik beschreiben, die sich mit dem oder nach dem Zweiten Weltkrieg vollzog?

TPH: Die Deutschen hatten Anfang des 20. Jahrhunderts eine sehr treffende und effektive Art, Elektrizität zu beschreiben. Es gab Starkstrom, der große Spannungen betraf und da gab es Schwachstrom. Starkstrom war Energie und Licht. Das war Starkstrom, Schwachstrom ist Telegraphie, Radio und die Elektrizität, welche die Rechner mit Strom versorgt. Also die Strarkstromtechnik hatte mit dem Zweiten Weltkrieg ihren Höhepunkt erreicht. Nach 1925 1930 gab es auf dem Gebiet keine dramatischen Veränderungen mehr.

Legierung eines Halbleiters um 1955 ©SiemensForumMünchen



Und die radikal neue Technik, sofern sie Elektrizität betraf, entwickelte sich auf dem Gebiet schwacher Ströme, also Radar (elektrisch), Kommunikation (elektrisch) und Rechner, die mit elektrischer Energie arbeiten, aber in relativ schwacher Menge. Und so entwickelte sich die Elektrizität nach dem Zweiten Weltkrieg zu einem Mittel der Kontrolle und einem Mittel der Kommunikation, und nicht so sehr als Energiequelle. Sie ist Energiequelle geblieben, aber die radikal neuen Entwicklungen fanden auf dem Gebiet der Kontroll- und Kommunikationstechnik statt. Und das verlangt nach einer anderen Art von Ingenieur als dem, den wir vorher hatten. Als ich die Ingenieursschule besuchte, waren Energie und Licht unsere Hauptgebiete. Zehn Jahre später studierten wir auf dem Gebiet der Elektrotechnik Kommunikation und Kontrolle. Und heutzutage sind die elektrotechnischen Abteilungen vor allem für die Entwicklung von Rechnern verantwortlich. Es ist also immer noch Elektrizität, aber seine Merkmale haben sich dramatisch verändert in den letzten 50 bis 75 Jahren.

MH: Kann man sagen, das Militär war verantwortlich für den sog. "Vormarsch" der Halbleitertechnik?

TPH: In den Vereinigten Staaten, wo der Computer auf eindrucksvolle Weise entwickelt wurde, - ich weiß, daß das eine große Behauptung ist - aber in den Vereinigten Staaten wurde er auf sehr eindrucksvolle Weise benutzt, allein wegen dem ganzen Geld, das man in die Computer gesteckt hatte. Das Militär brachte das Geld für die Entwicklkung der ersten großen digitalen Rechner auf. Der erste große digitale Versuchsapparat, den sie einen Computer nannten, wurde hier, wo ich wohne, ganz in der Nähe von Philadelphia, entwickelt, und der erste wirklich große digitale Computer, der an der Universität von Pennsylvania entwickelt wurde, wurde von der Armee finanziert. Und dann nach dem Krieg hat die amerikanische Luftwaffe einen der nächsten großen Computer finanziert, einen Rechner, den sie Whirlwind Computer nannten, entwickelt am MIT. Er war als Kontrollrechner konzipiert. Computer können rechnen und wissenschaftlich analysieren, aber sie können auch Geräte kontrollieren. Und der Whirlwind Computer, den das MIT entwickelt hatte, war ausgelegt, Flugzeuge zu leiten, die in den Luftraum eindringende Flugzeuge abfangen sollten. Also amerikanische Flugzeuge zu steuern, die auf eindringende Flieger reagieren und diese abfangen sollten. Zu dieser Zeit dachte man an russische Flugzeuge. So war es wieder mal Kontrolle, Kontrolle der Luftwaffe. Und einige dieser konstruierten Flugzeuge waren automatisch, das heißt, sie flogen ohne Piloten. Und dieser Riesenrechner sollte die Richtung der eindringenden Flieger berechnen und deren Geschwindigkeit und dann ausrechnen, wie die amerikanischen Abfangjäger fliegen sollten, um die Eindringlinge zu stoppen. Das ist eine Kontrollmaschinerie, eine elektrische zumal.



MH:
Gibt es kein Entkommen vor dem Einfluß des Militärs?

TPH: Das National Research Council (der Nationale Forschungsrat) hat vor einiger Zeit ein Kommitee gebildet, das die Ursprünge der Computerindustrie in den USA untersuchen sollte und ich war Leiter dieses Kmomitees. Wir haben herausgefunden, daß es die Regierung war, welche die Computerrevolution in den Vereinigten Staaten finanziert hatte. Das Militär war es genaugenommen, welches diese Revolution finanziert hat. In den 50ern, 60ern bis in die 70er Jahre, als Computer rapide entwickelt wurden und ausgiebig in Gebrauch kamen, spielten militärische Finanzierung und die Luftwaffe eine führende Rolle. Am Ende der 70er begannen private Firmen, die Forschung und Entwicklung zu übernehmen, aber bis dahin war das Militär federführend, ja das stimmt.

MH: Wäre das nicht auch ohne Militärs möglich gewesen?

TPH: Heutzutage wird die Computerindustrie nicht vom Militär finanziert. Nein. In den Vereinigten Staaten werden die größten Investitionen auf medizinischem Gebiet gemacht. Es ist nun die medizinische Forschung, die von der Regierung gefördert wird, durch das Nationale Gesundheits-Institut. Aber das ist nicht militärisch. Nein, das Militär spielt nun im Jahre 2001 keine besondere Rolle bei Forschung und Entwicklung. Das gilt für die 30 Jahre von 1945 bis 1975, wo das Militär eine Hauptrolle bei der Computerentwicklung gespielt hat, bei der Flugüberwachung und -Kontrolle. Da gibt es eine lange Liste von Zuwendungen. Ob es ohne das Militär möglich gewesen wäre, werden wir wohl nie erfahren.

MH: Wie könnten wir wieder eine zivile Haltung in der Technik gewinnen, die nicht von diesem Kommandodenken des Militärs bestimmt ist?

TPH: Wie ich schon sagte, in den letzten 30 Jahren spielte das Militär längst nicht mehr die unterstützende Rolle, die es in den ersten 30 Jahren nach dem Krieg gespielt hat. Es ist nicht mehr die Hauptfigur, die es einmal bei Forschung und Entwicklung gewesen ist. Nun zu diesem Punkt, auf den Charles Perrow hinweist, über das Scheitern der Systeme. Charles Perrow ist vor allem besorgt über hierarchische Systeme. Systeme, die wie eine Pyramide aufgebaut sind, wo es eine herrschende Gruppe an der Spitze gibt oder in einzelnen Fälle bloß ein Individuum, das die Spitze der Pyramide besetzt hält. Falls also irgendetwas mit dieser Spitze passiert, bricht das System zusammen. So gibt es eine große Gefahr in einem System, das hierarchisch kontrolliert ist. Das kann ein elektrisches Energiesystem, ein Telefonsystem, ein Waffensystem sein.
Das Internet ist das genaue Gegenteil eines solchen Systems. Es gab große Gefahrenmomente in diesen hierarchischen Systemen, aber das Internet ist nicht hierarchisch gegliedert. Das Internet ist ein breitgefächertes System. Die Kontrolle des Internet geschieht an sehr vielen Knotenpunkten, wie man sie nennt. Es gibt kein Zentrum im Internet, wo die Herrschaft sitzt. Es gibt keinen zentralen Punkt, an dem die Fäden zusammenlaufen. Das nennt man verteilte Kontrolle. Die Gefahr eines Kollaps ist viel geringer.
So ist das Internet ein vielschichtig verteiltes System und es war auch unsprünglich so konzipiert, daß es durch einen einzigen Angriff nicht zerstört werden konnte. Lassen Sie mich erklären, was ich mit einem einzigen Schlag meine. Das Militär war der Taufpate des Internet und die Luftwaffe sein ursprünglicher Geldgeber, die Luftwaffe vertreten durch eine Agentur namens ARPA, aber das tut hier nichts zur Sache. Aber die Luftwaffe wollte ein verteiltes System, ein international verteiltes System, so daß im Falle eines Luftangriffs auf die USA durch eine sowjetische oder mehrere sowjetische Bomber diese das System nicht zerstören konnten, ganz einfach weil es aufgefächert war. Man konnte diesen Punkt treffen und es gab immer einen Weg um diesen Punkt herum. So war das Internet zwar für militärische Zwecke entwickelt und bestimmt, aber nun sind Personen, die ein Interesse an demokratischer Kontrolle von Systemen haben, sehr froh darüber, daß es so konzipiert wurde. Denn es ist distributiv. Es gibt nirgendwo ein zentrales Management des Internet. Keiner weiß, wer das Internet im Sinne totaler Verfügungsgewalt kontrolliert. Wir sollten vielleicht mehr solcher breitgestreuter Netzwerke haben.


Der Atomreaktor auf Three Mile Island, Harrisburg, Pennsylvanien



MH:
Aber gibt es nicht noch ganz andere Gefahren, z.B. die von Alter, Schlamperei, Korrosion?

TPH: Es stimmt, wir hatten einige große Unfälle. Der Atomunfall in Rußland war vielleicht der dramatischste. Dann gab es die blackouts in New York, als New York City keinen Strom mehr hatte. Und dann diese schreckliche Challanger-Katastrophe, wo die Leute an Bord des Raumschiffs starben. So gab es Unfälle. ... Ja, Harrisburg ist ganz nah von hier und als jemand, der in Pennsylvania lebt, kann man das kaum vergessen. Ja, es gab System-Katastrophen. Wie Sie sagten, Systeme altern und es gibt die verschiedensten schwachen Punkte im System.

MH: Müssen wir nicht einen radikalen Ausweg aus solch katastrofenträchtigen Systemen finden, z.B. durch Rekurs auf Lewis Mumfords "Small is beautiful"?

TPH: Es hat eine lange Diskussion gegeben zwischen den Leuten, die gesagt haben: small is beautiful und denjenigen, die die Technik zentralisieren wollen. Es handelt sich um ein komplexes Problem und es gibt keine einfachen Antworten. Auch ich habe geglaubt, der richtige Weg führe auf dem Gebiet der Elektrizität zum Beispiel über kleinere Kraftwerke. Aber größere Wirtschaften gehen mit der Schaffung großer Systeme einher. Zumindest theoretisch und vielleicht auch praktisch. Man kann Elektrizität einfach billiger produzieren, wenn das System groß ist. Dafür gibt es einige komplizierte Gründe, die Ladungskapazität ist zum Beispiel besser bei größeren Systemen Und je höher die Ladungskapazität, desto niedriger die Kosten des Stroms. So gibt es ökonomische Gründe für großangelegte Systeme.
Ein ganz wichtiger Faktor ist auch das Verhältnis von Größe und Qualifikation. Wenn Sie eine größere Anzahl kleiner Systeme haben, dann brauchen sie auch überall eine größere Zahl fähiger Leute. Dasselbe Problem mit fähigen und qualifizierten Leuten entsteht, sobald man viele kleine Kraftwerke betreibt, da braucht man auch entsprechend viel qualifiziertes Personal. Möglicherweise gibt es nicht genug davon. So konnte man in der Vergangenheit, indem man die Stromversorgung zentralisierte, auf eine Handvoll Experten und qualifizierte Leute zurückgreifen, die von einem zentralen Punkt aus ein sehr großes Verteilungssystem führten. Es kam heraus, daß, wenn man eine große Zahl kleiner Kraftwerke betreibt, die an ein sehr weit verzweigtes Verteilernetz angeschlossen sind, diese Kraftwerke nicht besonders gut geführt werden. Und wenn ein kleines Kraftwerk versagt, kann es das ganze System durcheinanderbringen. Darum mögen es Ingenieure nicht so gern, wenn das System zu breit übers Land verstreut ist, Elektroingenieure jedenfalls bevorzugen eine Konzentration von Expertise und Können an einem zentralen Ort. Darum denke ich: wenn wir wirklich in die Richtung kleinerer Stromerzeuger gehen wollen, die breit übers Land verteilt sind, anstelle eines konzentrierten Energienetzes, dann muß eine Menge neuer Technologie entwickelt werden, die eine zuverlässige Kontrolle dieser elektrischen Energieproduktion möglich macht. Das wäre nicht einfach und leicht zu bewerkstelligen. Wenn wir darin eine Menge Geld investieren würden, könnten wir vielleicht das Stromnetz in kleinere Einheiten aufteilen. Das ist sicherlich möglich. Ich denke, es wäre ziemlich teuer und würde eine Menge Zeit kosten, aber vielleicht sollten wir das tun.



MH:
Ich sehe nur wenige, die die Herausforderung annehmen, obwohl wir möglicherweise das nächste Jahrhundert nicht überleben werden, wenn wir so weitermachen wie bisher ...

TPH: Ich denke, in der Geschichte ist es normalerweise so, daß wenn Probleme ernst genug geworden sind, wenn der Druck auf uns groß genug geworden ist, dann reagieren wir, aber wir warten, bis der Druck sehr hoch ist und das Problem wirklich ernst geworden ist. Aber ich glaube, wir werden reagieren. Wir wissen, daß das Öl eines Tages knapp werden wird, vielleicht werden wir dann unsere Energien auf andere Energieformen verwenden. Aber sehen Sie, da gibt es ein großes Trägheitsmoment - ich benutze hier gern das Wort „momentum“ -; wir haben so viel in Öl investiert. Schauen Sie nur einmal all die Tankstellen, die Bohrtürme, die ganzen Firmen, die in Öl machen. Denken Sie an die enormen Vorkommen und die Zahl der Leute, die vom Öl leben. Das können Sie nicht über Nacht ändern, ganz einfach weil das Trägheitsmoment zu groß ist. Nur durch ein relativ katastrofales Ereignis oder angesichts eines katastrofalen Problems würden wir diese Trägheit überwinden und den Gang der Dinge ändern. Das wird vielleicht passieren. Das mag dann zu spät sein, aber normalerweise wird der Schwung gebremst sein.
Ich versuche, Ihnen ein gutes Beispiel zu geben. Achja, nach dem Zweiten Weltkrieg befehligten die meisten Luftwaffengeneräle Flugzeuge mit Piloten und widersetzten sich der Entwicklung unbemannter Raketen. Aber dieses Trägheitsmoment, dieses Engagement für den bemannten Flug war aus sehr komplizierten Gründen bereits gebrochen. Sehen Sie, die Generäle, die den Zweiten Weltkrieg überlebt hatten, waren meist Piloten, die ihre Flieger liebten. Sie liebten es, im Cockpit zu sitzen und sie wollten einfach diese Fernraketen ohne jeden Piloten nicht. Trotzdem: das „Momentum“ war gebrochen und die Fernlenkraketen wurden entwickelt. Auch die Bewegung in Richtung eines Automobils, das mit alternativen Brennstoffen gefahren werden kann, geht sehr langsam voran. Aber so etwas massives wie Detroit oder so massives wie Daimler Benz oder VW können Sie nicht über Nacht verändern. Aber es wird sich ändern, wenn der Druck nur groß genug geworden ist.


MH: Brauchen wir also eine neue Technik, von einer neuen Generation unabhängiger Erfinder?

Thomas P. Hughes: Ja, denn die großen Firmen unterstützen die unabhängigen Erfinder nicht, weil unabhängige Erfinder oft etwas hervorbringen, was man heutzutage „disruptive Technologie“ nennt. Eine Technologie des Bruchs heißt so, weil sie den Status Quo zerstört. Zum Beispiel General Motors, die Autos herstellen mit Verbrennungsmotoren, wollen keinen Erfinder, der mit einer Störenfried-Technik daherkommt, die die Hersteller von Verbrennungsmotoren in den Bankrott treibt. Darum sind große Korporationen im allgemeinen keine Liebhaber von unabhängigen Erfindern und radikalen Erfindungen. Bedenken Sie, daß Edison nicht Angestellter einer großen Gesellschaft war. Alexander Graham Bell gehörte keiner großen Firma an, Elmer Sperry war nicht angestellt. Aber heute bestimmen große Gesellschaften in der Regel das weite Feld der Technik, außer vielleicht in der Computerbranche - denken Sie an Paolo Alto, genauer gesagt in Silicon Valley, wo über 30 Jahre lang relativ kleine unabhängige Firmen das Sagen hatten. Da haben Sie ein gutes Beispiel für Wechsel. Computer brachten radikale Veränderungen. Ich weiß, es brauchte Zeit, bis der Schreibtisch-Rechner da war oder der Lap Top, aber historisch betrachtet lief der Wandel in Silicon Valley sehr schnell und eindrucksvoll ab. Trotzdem: es waren wieder kleinere Gründungen, die erfinderisch waren, nicht große Gesellschaften, allgemein gesprochen.

Manfred Hulverscheidt: Ich danke für dieses Gespräch.

 

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