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Father John Staudenmaier: Detroit, MI, 16. April 2001



Manfred Hulverscheidt
: Wenn ich Ihre verschiedenen Artikel richtig gelesen habe, dann gehen Sie viel weiter als auf das 19. Jahrhundert zurück, um das Phänomen Elektrizität als kulturellen Faktor unserer Gesellschaft begreiflich zu machen.

Father John Staudenmaier: Ich neige dazu, Elektrizität in einem breiteren kulturellen Kontext zu sehen; man kann sagen: im Kontext der Leute, die es lohnenswert fanden, ihr Geld und ihr Können, ihre Zeit und ihre Energie in elektrische Forschung und Entwicklung zu investieren. Ich denke natürlich besonders an das 19. und 20. Jahrhundert. Diese Leute sind nicht zufällig dazu gekommen, oder vielleicht sollte ich es anders ausdrücken: man könnte deren Motivation und Sorge um elektrische und später dann elektronische Systeme besser nachvollziehen, indem man sich fragt: ‚Was in der Kultur Europas - insbesondere Nord- und Westeuropas - hat bei den Leuten eine solche Vorliebe für diese Art von Technik erzeugt?



MH:
Worin bestand diese Vorliebe?

FJS: Ich denke insbesondere an die sich allmählich offenbarende Geschichte der Aufklärung des 17. und 18. Jahrhunderts. Achten Sie auf die führenden intellektuellen Köpfe Europas ungefähr nach dem 30jährigen Krieg, also die Zeit Descartes‘, dann Leibniz' und Newtons. Sie werden ein wachsendes Mißtrauen gegenüber dem Sinnlichen, Erfahrungsmäßigen, Regionalem, Topischen finden. Diese werden als verdächtig und enttäuschend eingeschätzt, und so suchte man nach einer Art neuem Bezugsrahmen für zuverlässiges Wissen und zuverlässige Politik. Einige behaupten, es läge an dem Gemetzel des 30jährigen Kriegs, in dem die Leute aus religiösen Motiven über viele Jahre fürchterliche Untaten an sich und ihren Kindern begingen und daß sie darum nicht mehr die Kraft besaßen zu glauben, man könne das Lokale, Sinnliche, Persönliche, das auf beschränkter Erfahrung Beruhende in der öffentlichen und politischen Welt unter einen Hut bringen.


Man fragte sich also: gibt es nicht irgendeinen Weg, eine Welt zu schaffen, die gesäubert ist von Leidenschaften, Vorlieben, Übertreibungen usw. Und auf der Grundlage dieser Suche entsteht nach meiner Ansicht der kulturelle Rahmen für die Investitionen zum Beispiel in Präzisionsinstrumente; - um etwas fein säuberlich ausmessen zu können, damit die Grenzen zwischen dem einen und dem anderen scharf und genau definiert sind: 'Ah! das ist es, was uns irgendwie befreit von diesem Gemetzel, diesen Schlächtereien!' Diese Mentalität ist meines Erachtens den großen Investitionen vorausgegangen, die wir mit dem Begriff industrielle Revolution beschreiben, die begleitet war von großen Durchbrüchen bei wissenschaftlichen Präzisionsmeßgeräten. Vielleicht kann man behaupten, daß die intellektuellen Eliten Europas sich vor der Dunkelheit fürchteten und sagten: es muß einen Weg geben, die Dunkelheit zu besiegen. Denn die Dunkelheit ist schlecht, das Dunkle, Emotionelle, Sentitive, Erfahrungs- und Ad hoc-Mäßige

Puppenstubenmodell von Michael Faradays Werkstatt
(Royal Institution, London)

Also ich neige zu der Behauptung, daß all diese Forschungen, die zur Elektrifizierung geführt haben, aus diesem kulturellen Kontext hervorgegangenn sind, der besagt, daß Präzision das Ungefähre überwinden soll.



MH:
Kehren wir heute in ein Zeitalter der Dunkelheit zurück?

FJS: Oja, ich denke, Sie können das sehen seit, ich nehme an, seitdem die Euphorien, die noch den Zweiten Weltkrieg begleiteten, allmählich aus der Wirklichkeit verschwanden - sagen wir irgendwann so ab 1970 . Da kann man eine steigende Zahl von Leuten ausfindig machen, vor allem junge, aber nicht ausschließlich junge Leute, die sagen: es muß noch etwas anderes geben als das scharfe, klare, strategische, systemorientierte Denken, da muß es mehr geben als das. Und so finden Sie alle möglichen Kultbewegungen, darunter einige ziemlich grimmige, fast geisteskranke; dann aber wiederum andere, die sich zurückbesinnen auf mystische Weisheiten sowohl östlicher als auch westlicher Provenienz. Es ist keineswegs zufällig, daß der Buddhismus heutzutage im Westen wesentlich populärer geworden ist als er noch vor 50 Jahren war. Ich glaube keineswegs, daß das ein Zufall ist. Ebenso ist es kein Zufall, daß die christliche Tradition klösterlicher Versenkung, das Festhalten am Rhythmus der Tageszeiten in den Büros der christlichen Institutionen heute wieder viel populärer geworden und von viel mehr Menschen getragen wird als sagen wir vor 50 Jahren. Diese Dinge legen uns nahe, daß die Vorstellung, die Gesellschaft sei in der Lage, ihren letzten Sinn und Zweck und ihr Glück in immer präziseren und feinabgestimmteren Systemen wachsender Komplexität zu finden, daß also Systeme, von denen wir abhängig sind, den ganzen Sinn des menschlichen Fortschritts ausmachten, - daß diese Anschauung den Leuten immer verdächtiger vorkommt.



MH:
Hat dieser Zweifel eine ähnliche Kraft wie der Enhusiasmus eines Thomas Edison, Werner Siemens, Walter Rathenau?

FJS: Eine sehr gute Frage, ob dieses Interesse, das in an all diesen kleinen kultähnlichen Gruppierungen zum Ausdruck kommt, dieses wachsende Interesse am Mystischen und Kontemplativen, ob es sich dabei um eine genuine kulturelle Bewegung handelt oder um ein Randphänomen. Man kann sicherlich sagen, es ist klein verglichen mit diesem großen Elefanten, den das Projekt der Aufklärung darstellt. ... Ich bin beeindruckt von diesem enormen Engagement, das diese Gesellschaft voraussetzt, daß ich Bürger einer Gesellschaft zunehmender Präzision, zunehmender Vorhersagbarkeit, Klarheit und Strategie bin. Ich glaube überhaupt nicht, daß das schon vorbei ist. Aus dieser Haltung heraus beobachte ich die Entwicklung von Leuten, die nach etwas Ausschau halten, was mehr ist als das. Es ist noch zu früh, über diese ein Urteil zu fällen.



MH:
Bringt die Elektrizität eine eigene nicht hinterfragbare Werteordnung mit sich?

FJS: Ich würde das nicht so sehen. Ich würde das so angehen wie vorhin. Ich persönlich neige nicht zu einer Interpretation, die z.B. sagt: Hier haben wir die Stromversorgung seit sagen wir ungefähr 1880. Sie wurde Allgemeingut, als um 1930 die meisten Haushalte des Westens über genügend Geld verfügten, ihr Haus zu elektrifizieren. ... Ich würde nun nicht behaupten, daß all diese elektrischen Systeme und Geräte eine entsprechende Mentalität erschaffen. Ich würde das Wort „erschaffen“ nicht gern in einem solchen Satz verwenden. Ich würde eher sagen, daß die gleiche Mentalität, die all diese Investitionen in die Forschung und Entwicklung über einen so langen Zeitraum hervorgebracht und sie für so viele Leute hat wichtig werden lassen, - daß diese Mentalität jetzt sicherlich entwickelt und verstärkt wird durch die Möglichkeiten, die die Elektrizität den Leuten an die Hand gibt, zweifellos. Sie macht einige Verhaltensweisen etwas leichter und andere etwas schwieriger, und so wird es die Leute sicherlich mit der Zeit beeinflussen, ja. Die Leute besaßen bereits vorher eine gewisse Mentalität. ...
Dennoch, wenn Sie mich fragten: gibt es einen Langzeiteinfluß auf die Art und Weise, wie die Menschen ihr Leben einschätzen aufgrund elektrischer Lichtverhältnisse, oder weil es sehr gute Lichtverhältnisse rund um die Uhr gibt, dann könnte man da eine ursächliche Beziehung ausfindig machen und in Frage stellen, und das tue ich. Sie könnten sagen, daß alle Kulturen vor der Elektrifizierung sich mit einer Zeit schlechten Lichts abfinden mußten, nennen wir es Nacht, mit der jeder zu tun hatte bis auf die sehr reichen Leute, die sich viele Kerzen leisten konnten.

Aber für die große Masse der Menschen war klar, daß die Welt in Zeiten guten Lichts und Zeiten schlechten Lichts eingeteilt war. Und darum wußte jeder, daß es bestimmte Dinge gab, die man bei gutem Licht und andere, die bei man weniger gutem Licht verrichtete, und einige Dinge, die man des Nachts tat, funktionierten bei gedämpftem Licht besser als bei hellem Licht. So haben die Leute ohne lange nachzudenken verstanden, daß es Dinge des Lichts und Dinge der Dunkelheit gibt und daß man lernen muß, mit beiden gut umzugehen, einfach weil sie uns täglich begleiten.
Was geschieht also in einer Kultur, die gar nichts mehr mit schlechtem Licht zu schaffen hat, vielleicht sogar für immer? Was geschieht mit den Dingen des gedämpften Lichts, die die Leute bis dahin für selbstverständlich hielten? Ich denke an die Sachen, welche die Leute des nachts taten, schlafen, ausruhen, träumen, Geschichten erzählen, Sex oder nur so herumsitzen und nichts planen und nicht angestrengt nachdenken. Was geschieht mit diesen ganzen Aktivitäten in einer Kultur, in der man jederzeit die Dinge des Lichts, also scharf fokussierte Arbeit leisten kann, um Mitternacht oder um drei oder fünf Uhr morgens. Ich hab' da so meine Fragen.

Ich frag‘ mich z.B, wieso die Leute so leichtfertig annehmen, sie müßten fähig sein, sich schnell Klarheit zu verschaffen. Daß sie Unklarheit, Zweideutigkeit, Ungewißheit immer nur als Defekte betrachten und nicht als ganz normale Erscheinungen. Ich glaube, das ist eine Tugend, die uns in dieser Gesellschaft abhanden gekommen ist: daß wir ungeduldig sind mit Ambiguität, mit Unklarheit und dem, was wir nicht vorhersehen können. Darin sind wir nicht sehr gut. Das mögen wir nicht. Und irgendwie haben wir das vage Gefühl, etwas sei Schuld, wenn wir uns unsicher fühlen. Falls ich da richtig liege, ist diese Eile nach rascher Klärung nur ein eiliges Vorbeihuschen an einer wesentlichen Dimension des menschlichen Bewußtseins, die darin besteht, sich von einer Zeit der Klarheit zu einer Zeit der Ungewißheit zu bewegen, durch eine Zeit der Unsicherheit hindurch, bis sich wieder Klarheit einstellt. Wir sind vielleicht darin nicht so gut, wenn wir über die Beziehungen reden, die wir miteinander pflegen, über langfristige Politik, über gemeinsame Strategien. Wahrscheinlich zucken wir bei unsicheren Aussichten zusammen.
Ich denke, das könnte eine Wirkung von Technik sein.


MH:
Finden Sie es schlecht, daß die Medien z.B. dieses nächtliche Geschichtenerzählen für uns übernommen haben?

FJS: Also ich persönlich neige dazu zu sagen, daß jede Kultur zu jeder Zeit ihre angenehmen Seiten wie ihre Versuchungen besitzt, ihre eigenen Regeln und Verbindlichkeiten. Und ich würde niemandem raten, sich allzusehr den Kopf darüber zu zerbrechen, ob er besser oder schlechter dran ist als ein Mensch, der vor tausend Jahren gelebt hat. Trotzdem ist es nicht unklug, sich Gedanken über die Regeln und Verbindlichkeiten der Zeit, in der man lebt, zu machen. Und ein Weg, darüber nachzudenken, führt über den Vergleich mit anderen Perioden. Man sollte sich schon fragen: was sind die Dinge, die uns heutzutage ein nobles, reiches, freundliches, warmes, verspieltes Leben ermöglichen, im Vergleich zu den Zeiten von vor tausend Jahren? ... Eine Sache, die wir Bürger des späten 20. und beginnenden 21. Jahrhunderts hoch ansetzen dürfen, sind die schöpferischen Möglichkeiten der Systeme, die uns heute zur Verfügung stehen. Das schließt Transport-, Medien- und wissenschaftliche Systeme ein. Ich denke, daß die Menschen heute in der Lage sehr weit abheben, also auf einem Niveau kreativ sind, das sie sich vor tausend Jahren nicht haben vorstellen können.
So könnten Sie einwenden, daß die Gabe des Sinnes für Möglichkeiten, welche zu einem wichtigen Bestandteil des gegenwärtigen Lebens geworden ist, ein Ergebnis der Präzision von elektrischen Systemen ist, - und der Tatsache, daß diese Systeme ständig verstärkt und verbessert werden und wir dauernd damit beschäftigt sind, uns den Fähigkeiten dieser Systeme anzupassen. Sie könnten einwenden, daß damit eine andauernde Stimulation unserer Einbildung einhergeht, was schrecklich wäre. Ich glaube, das sehe ich auch so. Sie könnten auch einwenden, daß wir darum Opfer von Überfütterung sind. Da gibt es einen Menschen vom MIT, dessen Name ich vergessen habe, der das DATA SMOG nennt. Und wir sind alle damit belastet und wissen es. Wir wissen alle, daß wir zuviel Informationen bekommen, daß wir abstumpfen und zynisch werden und wir nicht sicher sind, wo wir in diesem Leben, das wir führen, Ruhe finden sollen. Das ist eine der Lasten dieser Welt. Aber beim Vergleich der Welt vor mit der Welt nach der Elektrifizierung sollten wir nicht wehmütig werden.



MH:
Dennoch frage ich Sie: gibt es nicht eine wirklich tiefgehende kulturelle Wirkung der Elektrizität, die unsere Körper und unser tägliches Leben betrifft?

FJS: Wissen Sie eine Sache, die für alle elektrischen Systeme gilt, ist dieser radikale Unterschied zwischen der Bewegung in Lichtgeschwindigkeit und der Geschwindigkeit von Körpern. Das ist ein gewaltiger Unterschied. Und da hat sich mit dem Auftreten elektrischer Systeme wirklich etwas geändert, worüber man auch mal nachdenken sollte, also fragen: in welchem Maße bewegen sich menschliche Organismen, also wir und unsere Körper auf wahrnehmbare Weise in der Geschwindigkeit des Blutes. Wir bewegen uns mit dem Tempo des Blutstroms, der unsere Körper durchfließt, während unser Nervensystem auf die Außenwelt reagiert und wir bewegen uns im Rhythmus unserer Hormone. Das ist die Art, wie sich das menschliche Tier bewegt und denkt und fühlt und schmeckt und Entscheidungen trifft. Aber ein sehr großer Teil der Welt, in der wir jetzt leben, bewegt sich in Lichtgeschwindigkeit. Ob wir nun über Kommunikationssysteme sprechen, die mir erlauben, mit jemandem in Europa so zu reden, als säßen wir uns am Tisch gegenüber oder wir über ein sehr komplexes elektrisches Energieverteilungsnetz sprechen , das den Leuten erlaubt, ihre Wünsche als Daten ins Netz einzugeben, aus dem andere wiederum ihre Güter beziehen, so daß es keine Ausfälle gibt. Diese Art von Informationsbewegung oder sprechen wir von einer elektronischen Datenbank, die in der Lage ist, ausgehend von einem kleinen Verkehrsvergehen mein gesamtes Strafregister bis zu der Tatsache zurückzuverfolgen daß ich in Conneticut gesucht werde, während ich in Wisconsin bloß eine rote Ampel übersehen habe. Diese Dinge haben alle dies gemeinsam und zwar, daß nur, weil wir Zeichen mit Lichtgeschwindigkeit durch die verschiedensten Medien jagen können, wir auf diese Weise viele Sachen wesentlich schneller erledigen können als jemals zuvor. Und ich denke, eine der wirklich wichtigen Fragen, über die man sich Klarheit verschaffen sollte, ist die folgende: Wie schaffen es Leute, deren Körper der Sitz ihres Bewußtseins ist, wie schaffen sie es, die Lichtgeschwindigkeit durchzuhalten, in ihren vernetzten Beziehungen informeller Datenübertragung. Da sind m.E. eine Menge interessanter Fragen zu klären.




MH:
Worin lag dann der nennenswerte Vorteil einer nicht völlig elektrifizierten Welt?

FJS: Ich denke, ein bemerkenswerter Wandel zwischen einer Welt ohne Strom und der gegenwärtigen Welt betrifft die Tatsache, daß jedermann reichlich „Abhäng-Zeit“, Ruhezeit, nutzlose Zeit hatte, weil darin die Nacht bestand. Wir sind damit nicht mehr gesegnet und vielleicht müssen die Leute deshalb, um eine Balance in ihrem Leben zu finden, sich auf irgendeine Weise geschützte Zeiten schaffen, Zeiten mit klaren Grenzziehungen, typischen rituellen Grenzen, innerhalb derer sie sich nicht mehr zweckgerichtet verhalten, wo sie nicht so eine Eile haben. Ferien, im Westen ein relativ neues Phänomen, sollten einmal so etwas sein. Nicht jeder kriegt das natürlich so hin. Sie nehmen Ferien und verhalten sich dabei genauso strategisch wie sonst auch, aber die Idee der Ferien war, aus meinem Leben herauszutreten. Wir sollten die Zeit einfach nehmen und beschützen und unser Mobiltelefon nicht zum Strand nehmen. Wir haben Zeit, wenn wir nicht unterbrochen werden können. Einige Leute kriegen das hin, andere weniger. Es gibt Mobiltelefone am Strand, aber daran können sie die Herausforderung des Erwachsenwerdens in unserer Kultur ermessen, nämlich als eine Herausforderung, Zeiten freizumachen, innerhalb derer Entscheidungsprozesse den Rhythmus bestimmen und wo wir nicht derart vernetzt sind, nicht so sehr mit Informationsverarbeitung beschäftigt sind.


MH: Haben Sie das bereits praktiziert, was sie vorschlagen?

FJS: Nein, ich finde das keineswegs einfach. Ich finde, es ist eine der Herausforderungen an das Erwachsenwerden. Ich habe in meine Woche jeden Sonntag abend zusammen mit vier anderen Jesuiten, mit denen ich hier zusammenlebe, 90 Minuten eingestreut, die nennen wir Erzählstunde. Und wir erzählen uns einfach nur, wie die Woche war, das Auf- und Ab der Stimmungen. Aber wir erzählen jetzt keine dicken Geschichten, wir erzählen kleine Geschichten. Ich finde, wenn man keine Foren mehr hat, innerhalb derer man unwichtige Geschichten erzählen kann, werden überhaupt keine Geschichten erzählt und die Leute fühlen sich fremd, weil niemand mehr den kleinen Dingen zuhören will. Wenn ich nach Hause komme und sage, mein Doktor hat mir erzählt, ich hätte Krebs und werde in zwei Wochen sterben, wird jeder meiner Geschichte hören wollen. Diese Story wird für eine gewisse Zeit bei anderen Leuten einschlagen. Wenn ich jedoch nach Hause komme und sage, da fuhr jemand neben mir auf der Autobahn, der schaute so bedrückt aus der Wäsche, daß ich selbst traurig war, als ich weiterfuhr. Das ist so eine nette kleine Geschichte. Könnte man die erzählen, während wir alle beschäftigt sind? Wahrscheinlich nicht. Aber wenn wir uns nicht gegenseitig eine Zeitlang unwichtige Geschichten erzählen, geht uns etwas verloren. ... Das ist ein wesentlicher Bestandteil des Erwachsenseins und wenn ich da richtig liege, dann müssen die Leute einen Weg dafür finden, trotz Mobiltelefon, Piepern und den Börsennachrichten von Hongkong auf meinem Palm-Pilot. Manchmal muß ich diese Dinge beiseiteschieben und Platz schaffen.



MH:
Kann man darum von einer geradezu zwanghaften Vernetzung sprechen, die mein Leben gängelt, wo ich es nicht mehr führe?

FJS: Ich denke über die Differenz nach zwischen dem Leben in einer vernetzten, elektrifizierten Welt, wo mein Rhythmus vom System bestimmt wird, und den Teilen meines Lebens, in denen ich es geschafft habe, anders zu leben. Ich denke, daß ich - im Falle einer vernetzten Mentalität - nach jeder sich bietenden Möglichkeit Ausschau halte und versuchen werde, keine einzige davon auszulassen. Meine Informations- und Kommunikationssysteme sind somit ständig in Bereitschaft, um mich so schnell und angepaßt wie möglich in ihnen zu bewegen.

Ich versuche dagegen Zeiten in meinem Leben freizumachen, wo ich keine Lust habe, Informationen zu verarbeiten, sondern stattdessen selbst anwesend sein will. Wo ich mich nicht im Takte der Uhr bewege, wo ich dem Ablauf der Zeit überhaupt keine Beachtung schenke und es schaffe, meinen Weg innerhalb des gerade ablaufenden Ereignisses zu finden, wo mir also dieses Ereignis die Zeit ansagt und nicht die Uhr. Ich glaube, jeder kennt diese Augenblicke, wo man sagt „vergiß‘ die Zeit!“ - und ich glaube nicht, daß wird dann die Zeit vergessen, sondern daß wir in solchen Augenblicken einen anderen Rhythmus haben. Das Ereignis sagt uns, daß sie noch nicht um ist, daß wir die Unterhaltung fortsetzen müssen oder die Party noch nicht vorüber ist oder daß das Buch in meiner Hand mich derart gepackt hat, daß ich voll und ganz in seine Lektüre vertieft bin und für einen Moment den Bezug zur Uhrzeit verloren habe.
Ich besitze Uhrzeit im Übermaß. Die meiste Zeit meines Lebens bin ich regelrecht programmiert und verhalte mich strategisch, und ich glaube, ich bin darin ein ganz gewöhnlicher Erwachsener. Nur durch Pausen gewinne ich Zeit. Manchmal pausiere ich sogar inmitten eines geschäftigen Tages und versuche, Dingen, die passieren, meine Aufmerksamkeit zu schenken, Dingen, die nicht auf meinem Zeitplan
stehen. Ich habe da einiges durch den Kodex eines Volkes gelernt, den Lakota, mit dem ich eine Zeit zusammengelebt habe; es ist mehr eine innere Einstellung und ein Gefühl für Pausen. Wenn ich zum Beispiel über eine Grasebene laufe und richtig zu pausieren weiß, kann ich die verschiedenen Töne des wachsenden Grases hier hören, die Töne eines wachsenden Baumes hier, oder eines anderen dort. Und wenn ich diesen Punkt, diesen inneren Zustand erreiche, in dem ich mich auf die Frequenzen des wachsenden Grases konzentriere und sie von denen eines wachsenden Baumes unterscheiden kann, dann bin ich für einen Augenblick aus meinem Rahmen herausgetreten und bin etwas gesünder, wenn ich wieder zu mir komme. Ich habe dann meine eigene Zeiteinteilung relativiert. Ich denke, eine Menge anderer Leute tun bereits das gleiche.



MH:
Sehen Sie auch außerhalb Ihrer eigenen Lebensführung eine gesellschaftliche Chance, diesen permanenten "stand-by-modus" zu überwinden?

FJS: Ich gebe ganz gewöhnlichen Leuten eine Reihe von Kursen über Elektrizität und meine gewöhnliche Erfahrung dabei ist, daß viele gar kein scharfes Bewußtsein über ihre Beziehung zur Elektrizität besitzen. Aber ihre Gefühle über Elektrizität sind sehr nahe bei der Sache und können kaum beeinflußt werden. Die Leute haben ein sehr genaues emotionales Einfühlungsvermögen, ich denke sowohl im Hinblick auf ihr Gefühl für die sich bietenden Gelegenheiten wie auch für die Kommandogewalten, die ihnen die elektrische Technologie bietet. Ich denke an diesen Sinn für Macht und Energie. Aber die Menschen haben auch ein gutes Gefühl für dieses Getriebensein und die Gefahren, sich in den einzelnen Schritten zu verlieren. Sie verstehen beides auf Anhieb, sobald man ihnen das bewußtmacht. Das ist eine sehr spannende Sache. Ich denke, das gilt auch für Autos, für Computer, inzwischen glaube ich sogar für Nahrung und bald für Wasser. Ich meine, die meisten Leute wissen gar nicht, wie emotional ihre Beziehung zu Wasser-Systemen ist, also Wasser aufzubereiten und zu verteilen und so weiter. Ich glaube, daß die Wirkungen von Elektrizität und Autos den Leuten immer noch sehr viel bewußter sind als die von Nahrung und Wasser, obwohl uns da heutzutage schon vieles bewußter geworden ist. Aber ich habe das Gefühl, daß wir Bürger des 20. und 21. Jahrhunderts allesamt sehr emotionale Beziehungen zu all diesen Technologien unterhalten, aber es ist schwierig, diese Beziehung für uns selbst in die richtigen Worte zu fassen und dabei einen Schritt innezuhalten und über sie nachzudenken. Das ist eine Sache, die ich sehr gern tue: ich mag es, hilfreiche Worte zu finden, die es Leuten ermöglicht, ihre eigenen Erkenntnisse über die Technologien zu artikulieren, die für ihr Leben wichtig sind.



MH:
Wie schätzen sie Möglichkeiten ein, elektrische Systeme z.B. für kontemplative Praktiken, also das genaue Gegenteil von zweckgerichteten Aktivitäten, einzusetzen?

FJS: Ich denke manchmal, daß die Leute Elektrizität als eine kontemplative Dimension ihres Lebens betrachten. Und manchmal, daß einige, besonders junge Leute, die gern mit Bildern spielen und deren Potentiale ausreizen, falls sie genug Speicher für Bilder und Bildkombinationen haben, daß die da etwas kontemplatives tun, was man ein Spiel mit der Einbildungskraft nennen kann. Ich will gar nicht darauf hinaus, daß Elektrizität unbedingt zerstreuender sein müßte als im Dunkeln abends um acht bei einem Feuer zu sitzen. Du kannst abschalten und vom Leben abkoppeln. Ich finde, Erwachsene sollten zerstreut werden, und es ist ein Teil unserer Lebensdisziplin zu lernen, wann zerstreut zu sein gut ist und wann man sich lieber auf etwas konzentrieren soll, oder wann man dieses oder jenes tun sollte, wann Zerstreuung destruktiv ist und wann sie bloß erholsam ist. Das sind wichtige Fragen und ich denke, es wäre gesund, mit ihnen die Art unserer Beziehungen zu elektrischen Systemen abzuklären.

Manfred Hulverscheidt: Zum Schluß noch eine Frage zur Zukunft hochtechnologischer Systeme. Werden diese angesichts schwindender Ressourcen nicht eher in einer Katastrophe münden als in einer Transformation?

Father John Staudenmaier: Sie meinen, ob es einen katastrofischen Ausgang der Spannungen eines Systems geben wird? Ich weiß nicht, ob da zum gegenwärtigen Zeitpunkt eine korrekte Vorhersage möglich ist. In vielen Bereichen der Welt wächst der Druck. Die Menge des Stromverbrauchs ist einer davon. Die wachsende Müllmenge, die die verschiedenen Systeme der Menschen produzieren, sind auch sehr bedrückend. Die Knappheit von sauberem Trinkwasser gehört dazu. Aber was aufgrund dieses Drucks wirklich passieren wird, kann man derzeit noch nicht wissen. Mir scheint, es könnte ziemlich übel werden. In einigen Teilen der Welt ist es bereits sehr übel. Die große Ungleichheit in der Welt ist nicht die digitale Scheide, es ist das Wasser, die Trinkwasserscheide, denke ich.

MH: Father John, ich danke für dieses Gespräch.

^^

 

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