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Über den Elektromenschen

Aus einem so verästeltem Universalthema wie Elektrizität einen Film zu basteln war keine leichte Übung. Da laufen so viele Dinge kreuz und quer, daß einem schnell irre im Kopf werden kann. Es gibt eine wahnsinnige Nachfrage nach allem möglichen "Elektrischem", wie unsere Eltern noch sagten, aber es läßt sich nicht verorten wie z.B. in der Heiz- und Klimatechnik, oder in der Düngemittelchemie, wo es doch letztlich um stoffliche oder zumindest um stofflich nachvollziehbare Prozesse geht. Oder um einen privilegierten Anwendungsort wie z.B. den Häuserbau oder die Landwirtschaft. Elektrizität haust überall.
Ein führender Vertrieb von Elektronik und Technik bietet einem breiten Kundenkreis auf 1888 Katalogseiten über 50 Tsd. Artikel an, die oft wunderliche Namen tragen wie Heißleiter, Kaltleiter, monostabiles TK-Printrelais, Elektrolytkondensator, Fußwinkeltransformator, Entstördrossel, - aber auch ganz vertraute wie Monitor, Diktiergerät oder CD-Brenner. Wir können uns gar kein "Bild machen"; umzingelt von elektrischen Anwendungen durchschauen wir die zugrundeliegenden Systeme nicht.

 


Es gibt zwei Arten von Menschen: eine relativ kleine Expertengruppe, die aufgrund rigider fachlicher Ausbildung weiß, was ein monostabiles TK-Printrelais ist. Sie gehört zu einer größeren Gruppe, die zumindest weiß, daß Relais zu deutsch Schalter heißt und warum es zu den sogenannten passiven Bauelementen eines elektrischen Systems gehört. Ingenieure sind keine Intellektuellen, die Spaß an Begriffen, Unterscheidungen und Begründungszusammenhängen haben. Es sind Leute, die oft intuitiv mit diesen Elementen umzugehen wissen und sich Sachen ausdenken oder Sachen ummodeln. Diese Gruppe ist auch heute noch immer sehr kreativ. Trotzdem wird ihr Erfindungsgeist doch sehr eingeschränkt durch das, was gerade marktgängig ist oder durch Konzentration auf sog. "Benutzerprobleme", also Service etc. Diese ebenfalls sehr weit gestreute Gruppe von Menschen taucht im ELEKTROMENSCH etwa in der Mitte des Films auf, wo es um die Siemens-Entwicklungsabteilung in München-Perlach, um Elektronik und Kommunikation zwischen Mensch und Maschine geht.
Und dann die große Mehrheit derjenigen, die nicht einmal wissen, wie der Lichtschalter in ihrem Hausflur funktioniert.


Th. P. Hughes hat als naturwissenschaftlich gebildeter Historiker diese Welt und ihre allmähliche Veränderung auf wunderbare Weise beschrieben, und ohne der Tragödiendichtung anheimzufallen, ihren Untergang. Sehr beeindruckend auch seine überaus kühle und detaillierte Beschreibung des Manhattan Project, bei dem es nicht nur um THE LITTLE BOY oder um THE FAT MAN, zu deutsch DIE BOMBE ging. Es ging um die Entwicklung großer Organisationen, in denen Einzelgenies wie Oppenheimer oder Teller mit einer neuen Spezies von Technokraten und Militärs zu tun hatten, die für enorme Finanzmittel und die nötigen logistischen Voraussetzungen sorgte. Sie erwartete eine kriegsentscheidende Waffe, aber genau gesehen ging es um eine viel langfristigere Verknüpfung von Systembau, Systemdenken und militärischen Komplexen. Prof. Wolf, die in meinem Film zitierte Figur Harry Piels aus dem Jahr 1934, scheitert vielleicht daran, daß er nur eine Kampfmaschine baut, aber kein System um sich herum entwickelt, daß von alleine Kampfmaschinen baut für simulierte Meeres-, Luft- und Wüstenschlachtfelder. Er ist einfach nur aggressiv und herrschsüchtig, zu sehr von seiner Sucht und seinem Willen beherrscht. „Sie (die Roboter) werden für uns schaffen und schaffen und immer wieder schaffen. Mit ihnen werde ich die Welt beherrschen.“
Das Manhattan Project war eigentlichlich ein recht gruseliges Amalgam aus rationalen Erfordernissen und seltsamen Motiven, um auf Stanley Kubricks Dr. Strangelove anzuspielen. In der historischen Wirklichkeit hat es in den USA wegen seinem Bedarf an riesigen Mengen elektrischer Energie eine ganze Landschaft umgepflügt, das Tal des Tennesey River, und es entstand eines der größten Staudamm-Systeme (=Landschaften) der Welt, die heutzutage jedes Jahr im Sommer massiv mit anderen Systemen, z.B. der kommerziellen Schiffahrt, kollidiert. Wenn nämlich die Klimaanlagen soviel Strom fressen, daß für die Stromerzeugung in den Staustufen soviel Wasser zurückgehalten werden muß, daß der Fluß nicht mehr beschifft werden kann. Es war unmöglich, diese ganzen sehr wichtigen Bezüge und Querverbindungen in den TV-Film einzubauen, das läßt sich m.E. viel besser mit den mulitimedialen Möglichkeiten z.B. dieser Webseite leisten.
Sehr anregend waren auch andere Bücher wie Felix Paturis "Chronik der Technik", wie viele schöne Bücher: einmal aufgelegt und bald vergessen. Das gilt übrigens auch für Thomas P. Hughes "American Genesis", das einerseits schon zwei Jahre nach der amerikanischen Erstveröffentlichung 1991 bei Beck in München als hardcover erschienen ist, aber jetzt nur noch antiquarisch oder in Bibliotheken erhältlich. Auch für sein neues Buch "Rescuing Prometheus", das keinen deutschen Verleger findet, obwohl es gegenwärtige Mammutprojekte wie das Massachussets Institute of Technology (MIT) als Systembauer, riesige Bauprojekte wie den Boston-Tunnel, und nicht zuletzt die Hintergründe des schon zum Mythos gewordenen „Militärisch-industriellen Komplex“ beleuchtet.
Weil kurz gesagt der Ingenieur Hughes die Teile (parts) kennt und der Historiker Hughes weiß, daß es immer jemanden gibt, der die Teile kombiniert und zusammensetzt, so verdankt die neuere Geschichtsschreibung ihm die sich allmählich durchsetzende Emphase, die wir auf den Typ des "Systembauers" (system builder or system engineer) legen müssen, wollen wir der neueren Geschichte und ihren Akteuren gerecht werden und sie nicht ewig noch als "Geschichte mächtiger Männer nebst einigen Frauen" fortschreiben, bzw. weiterhin Gefangene von idealistischen Vorstellungen bleiben, von in der Geschichte obwaltenden Gesetzen.
Mir erschien das vielzitierte Zeitalter der Elektrizität auf einmal viel deutlicher vor Augen und die Lektüre seiner Bücher hat mich angespornt, dieser verwobenen Geschichte etwas rein filmisch inspiriertes entgegenzusetzen. Dabei führten einige seiner Kapitel sehr direkt zu Aufnahmen für den ELEKTROMENSCHen: er spricht in der Einführung zu American Genesis vom "Technological Torrent", dem "Technologischen Wasserfall" und zitiert einen Autor aus den 1960er Jahren, der die technikbeseelten Amerikaner der letzten Jahrhundertwende in einem Bild zu beschreiben versucht: Sie "stürzten sich in den technologischen Strudel und jubelten freudig mitten im Wasser. Während sie in den Stromschnellen hinuntergerissen wurden, riefen sie einander zu, hier erfülle sich ihr Schicksal." Wenn nun nach unserem Besuch in Philadelphia ein Besuch der Niagara-Fälle angesagt war, so hieß das noch lange nicht, daß diese den Film eröffnen sollten. Es war dies einer der wirklich magischen Augenblicke, wo ich als filmender Dokumentarist oder als dokumentierender Filmemacher dem Geist meines eigenen Projekts begegnet bin. Dieses Tosen des Abgrunds war längst keine Metapher mehr. Es war unmittelbare Gegenwart gebündelter Energie.

In solchen Augenblicken ging mir Elektrizität wirklich nahe. Ebenso wie sie mir beim Lauschen der Hammerklaviersonate op. 106 des Ludwig Van B, gespielt von Georg F. Schenck, nahegegangen ist; oder ihr flirrend nervöses Wesen in Stockhausens frühen Kompositionen, die ich in lange filmische Sequenzen eingearbeitet habe. Weißgott kein emotional programmiertes Synthezisergedudel, von dem wir zur Zeit in fast sämtlichen Filmproduktionen, die sich kein Orchester mehr leisten wollen, erschlagen werden. Zum Leidwesen des infotainments vielleicht, aber Elektrizität unmittelbar ausdrückend. Stockhausens Gesang der Jünglinge oder seine „Kontakte“ sind musikalische Stromstösse (früher sagte man: der Hammer!).
Schließlich gibt es diese überaus nervigen Heimsuchungen, die uns die Elektronik fast täglich bereitet. Jeder Computerbenutzer kennt diese grausigen Momente, wo niemand mehr durchblickt, warum etwas nicht funktioniert, was jedoch eigentlich unter diesen oder jenen Voraussetzungen hätte funktionieren sollen. Wo einem Angst und Bange wird beim Gedanken, daß elektronische Systeme landschaftsgroße Giftbatterien verwalten oder Atomkraftwerke, in denen wahrhaftig nichts, aber auch gar nichts schiefgehen sollte. Ich glaube, der Besuch am Susquahenna River in Pennsylvania, wo auf einer Insel drei Meilen südlich von Harrisburg ein Atomkraftwerk steht, das im Jahre 1979 eine mehr als deutliche Warnung Richtung technologischem Optimismus ausgestoßen hat, war ein anderer sehr intensiver Moment bei den Aufnahmen.
Vergessen wir nicht: Die Geschichte der Elektrizität ist im 20. Jahrhundert auch zur Stromversorgungs-Geschichte herabgesunken, so als ob es nur noch darum ginge, die Menschheit mit Unmengen elektrischer Energie zu beglücken. Ironischerweise wären einem finalen Reaktorunfall auf Three Mile Island vor allem die weiten Lebens- und Anbaugebiete der Amish-People in Pennsylvania und Ohio zum Opfer gefallen. Diese lehnen zwar die Elektrizität nicht, wie fälschlich behauptet wird, als "Teufelskram" ab. Sie wollen aber auf keinen Fall an ein System angebunden sein, welches sich "nicht gottgefällig in die Schöpfung einfügt".
Dieser Katzenjammer daß wir immer noch nicht in der technischen Lebenswelt angekommen sind, wird bei mir jedenfalls immer wieder abgelöst und überlagert durch ein Freudengefühl, wenn etwas technisch einwandfrei klappt und mich von stumpfsinniger Fronarbeit befreit. Nur ist uns heute diese Romantik von ständiger Innovation und Verbesserung abgehanden gekommen. Wir sind glücklich, wenn es klappt und spüren doch so eine Unheimlichkeit, aus einer Mischung von empfundener Abhängigkeit und Ohnmacht heraus, die für das Lebensgefühl zu Beginn des 21. Jahrhunderts ganz typisch ist. Einer der hundert Aspekte des Terrorüberfalls vom letzten September, der mir nahe gegangen ist, war die Tatsache, daß (wenn es stimmt, was noch per Mobiltelefon durchgesickert ist) die Anschläge mithilfe von blutrünstig archaischen Kampfmethoden wie Kehle durchschneiden, mit Blut spritzen, und - gemessen an militärischen Fluggeräten - langsamen Vehikeln wie einer Passagiermaschine verübt worden sind. Daß diese geradezu archaische Entschlossenheit von den bis zum Stehkragen hochgerüsteten Amerikanern als "Kriegshandlung" interpretiert und proklamiert wurde, mit möglicherweise katastrofalen politischen Folgen für alle diejenigen, die dem nicht zu widersprechen wagen. Purer Handbetrieb! Und einer der vermutlichen Mittäter hat sich erst im nachhinein dadurch verdächtig gemacht, daß er bei seinem Flieger-Crash-Kurs nicht an Start- und Landemanövern interessiert war.

Und so kommen wir wieder zum Ausgangspunkt: man braucht nur wenig Kenntnisse, um technische Systeme zweckzuentfremden, und schon kann ich meinen Mitmenschen die Hölle bereiten. Die Problematik einer neuen Elite von Systembauern und ihrem Verhältnis zum Kreis der üblichen Verdächtigen aus Wirtschaft, Politik und Militär wird bei Thomas P. Hughes auf kühle, nicht ethisch oder gar moralisch wertende Weise beschrieben. Genau das macht sie berührend: sie ist detailliert und vieldimensional, an der Technologie und ihren eigenen Möglichkeiten gleichermaßen orientiert wie am Schicksal ihrer mal mehr, mal weniger bekannten Protagonisten. So beschreibt er z.B. das Verhältnis Nicola Teslas zum Bankier J. P. Morgan, oder setzt sich mit den Hintergründen eines jahrzehntelangen, für die Beteiligten ruiniösen Rechtsstreits um das Patent für die Radioröhre (zwischen Edwin Armstrong und Lee de Forest) auseinander. Aber er vernachlässigt über diese allzumenschlichen Gefechte und Scheingefechte nicht den eigentlichen Kernbereich der Geschichte: warum Elektrizität so überaus produktiv für diese neue Welt technischer Artefakte war. Er schreibt z.B.:
"Edison und die anderen selbständigen Erfinder, die Ende des 19. Jahrhunderts wesentlich zum Aufblühen der Elektroindustrie beigetragen haben, sind vielleicht so ideenreich und produktiv gewesen, weil sie die Bedeutung des Jouleschen Gesetzes begriffen hatten, das sie anregte, bei ihren Erfindungen von Analogien auszugehen. 1843 veröffentlichte James Prescott Joule die Ergebnisse einer Reihe von Versuchen, welche die Äquivalenz oder Konvertibilität elektrischer, mechanischer und Wärmeenergie demonstrierten. Er erzeugte Elektrizität auf chemischem Weg mit Batterien, verwendete die elektrische Energie, um einen Elektromotor anzutreiben und maß dann die Wärme, die von der Armatur des sich drehenden Motors abgegeben wurde. Außerdem trieb er einen elektrischen Generator mit mechanischer Energie an, maß dann die Menge der so erzeugten elektrischen Energie und die Wärmemenge, die von der Elektrizität abgegeben wurde, welche durch einen Stromkreis floß. Joule zeigte auch die quantitativen Beziehungen zwischen elektrischem Strom, dem Widerstand eines Stromkreises und der Hitze, die von diesem Stromkreis abgegeben wurde. Sehr bald wurde das Joulesche Gesetz ganz allgemein von der Wissenschaft anerkannt und regte phantasiereiche Erfinder wie Edison zu Analogien an. So kam Edison auf den Gedanken, mechanische Pumpen und elektrische Telegraphen miteinander zu vergleichen bzw. eine Metapher zu entwickeln, welche diese beiden Vorgänge betraf. Er und andere Erfinder erkannten auch, daß es möglich war, verschiedene Energieformen einschließlich der akustischen in jeweils andere umzuwandeln. Die Telephon-Sprechkapsel Edisons, sein System für die elektrische Beleuchtung und sein Phonograph funktionierten aufgrund der Konvertibilität von Energie. Ähnlich sah Sperry in einem Elektromagneten eine Metapher, an der mechanische und elektrische Energie beteiligt war. Er verwendete Elektromagneten für die automatische elektromechanische Kontrolle von Stromkreisen."

Die Metaphorik ist das Verbindungsglied von Elektrizität und Elektromensch. Daran hat Wolfgang Hagen vor etwa 3 Jahren ("Mehr Licht", merve-Verlag 1999) erinnert. Dort zitiert er den deutschen Physiker und Entdecker der elektromagnetischen Wellen Heinrich Hertz und diesen Sätzen habe ich im Elektromenschen meine ganz persönliche Lieblingssequenz gewidmet, über die nur meßbare, aber niemals sichtbare Ausbreitung und Nutzung dieser Wellen im "Äther": "Wir machen uns innere Scheinbilder oder Symbole der äusseren Gegenstände, und zwar machen wir sie von solcher Art, daß die denknotwendigen Folgen der Bilder stets wieder die Bilder seien von den naturnotwendigen Folgen der abgebildeten Gegenstände. Damit diese Forderung überhaupt erfüllbar sei, müssen gewisse Übereinstimmungen vorhanden sein zwischen der Natur und unserem Geiste. Die Erfahrung lehrt uns, daß die Forderung erfüllbar ist und daß also solche Übereinstimmungen in der Tat bestehen."
Der Elektromensch ist, auch wo er sich einige Erzählungen erlaubt, in großen Teilen pure Metaphorik und Musik, was dem Thema übrigens ganz und gar angemessen ist.
Trotz vieler Verschlungenheiten verfolgt der ELEKTROMENSCH eine klare Linie: die Linie vom "Edisonschen" Aufbruch in ein neues Zeitalter universal verfügbarer elektrischer Energie zur gegenwärtigen Situation, die vom elektronischen Potential zur Steuerung, Automation und Kontrolle von Maschinen und Menschen geprägt ist.
Für mich war der Elektromensch bis zuletzt ein notwendiges Experiment mit ungewissem Ausgang. Denn die Genres wie z.B. "das TV-feature" sind in Auflösung begriffen. Seit wann? Ich glaube seit der langsam voranschreitenden Wiederentdeckung symbolischer Bildsprachen in den elektronischen Medien; oder, seitdem durch die fast vollständige Synchronisierung - d.h. zeitliche, nicht unbedingt inhaltliche Gleichschaltung dieser Medien - eine Unterscheidung zwischen dem Referenten, dem Referierten und unserer Phantasie schlichtweg nicht mehr zu treffen ist. Ich denke mit Nietzsches Zarathustra: Was fällt, das sollst Du stoßen! So habe ich mit dem ELEKTROMENSCHEN vielleicht auch dem wortlastigen infotainment einen kleinen Strom-Stoß versetzt.


Mehr zum Themenabend Unter Spannung auf arte-TV.

 
 

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